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Mit Blick auf die Baugruppen A. Rahn, Rahn-tec Consultants, Montreal & R. Diehm, Seho, Kreuzwertheim

Ist die Umstellung auf bleifreie Lote wirklich einfach? (Teil 4)
Mit Blick auf die Baugruppen A. Rahn, Rahn-tec Consultants, Montreal & R. Diehm, Seho, Kreuzwertheim

Löten ist als eine Verbindungstechnik definiert, die zwei Metalle mittels eines dritten Metalls zusammenfügt. In der Praxis sind das heutzutage meist eine Leiterplatte, deren Metallisierungen mit den Metallisierungen der Bauteile als elektrische Leitungsträger verlötet werden. Natürlich gibt es auch sehr viele andere Anwendungen, selbst in der Elektronik, die von Kabelbäumen über Stecker bis hin zu Leuchten reichen. Das Grundprinzip bleibt aber in allen Fällen gleich.

Bei einer Umsetzung des Verfahrens auf „bleifrei“ wird das Produkt zur zentralen Fragestellung. Aus Sicht der Kosten, der Haltbarkeit sowie der Prozessführung diktiert das Produkt jedes Vorgehen. Bevor also eine Entscheidung über das einzuführende bleifreie Lot getroffen wird, müssen wir erst einmal alle Daten über unser(e) Produkt(e) gesammelt und gesichtet haben.

Wir fangen hier mit zwei ganz wesentlichen Aspekten an: der Leiterplatte und den Bauteilen.
Leiterplatte
Die EU Gesetzgebung betrifft die LP in zweifacher Hinsicht. Einerseits direkt wegen des Verbots der halogenierten Flammhemmer, andererseits indirekt über die Eliminierung des Bleis im Lot.
1. Das Laminatmaterial
Der erstgenannte Grund wird durch den Kauf von Laminatmaterial ohne halogenierte Flammhemmer gelöst werden müssen. Hier kann man entweder durch eine Spezifizierung des Laminatmaterials oder aber mittels einer engen Zusammenarbeit mit dem Leiterplattenhersteller zu den gesetzkonformen Ergebnissen kommen. Denn schließlich werden bereits Materialien mit phosphorhaltigen Flammhemmern angeboten, die zwar nicht ganz so effektiv zu sein scheinen und auch andere Nachteile aufweisen (z.B. Feuchtigkeitsabsorption), aber zumindest dem europäischen Gesetz (derzeit) genügen. Bei Lieferungen ins Ausland müssen jedoch eventuell spezifische Ansprüche (z.B. UL) neu überprüft werden. Die zweite Methode ist der ersten meist vorzuziehen, denn wie wir gleich sehen werden, beeinflusst auch die Wahl des Lotes die Eigenschaften des Laminatmaterials.
Bei der Wahl eines bleifreien Lotes stehen einem allgemein nur zwei mögliche Richtungen offen: Entweder ein Lot mit wesentlich niedrigerem Schmelzpunkt als SnPb37, oder aber eben eines mit einem wesentlich höheren Schmelzpunkt.
Wird z.B. ein Wismutlot als Ersatz gewählt, so kann man – außer der Eliminierung des halogenierten Flammhemmers – mit dem traditionellen FR4- oder FR3-Material gut weiterleben, denn die thermischen Bedingungen haben sich verbessert statt verschlimmert. Geht man jedoch zu einem der SnAg-, SnCu- oder SnAgCu-Lote über, so erhöhen sich die Löttemperaturen und (je nach Strategie – was wir noch in einem der folgenden Artikel behandeln müssen) auch die Vorheiztemperaturen. Traditionelles FR4-Material wird also über seine thermischen Fähigkeiten hinaus gestresst und muss dann durch ein Material (ohne halogenierte Flammhemmer) ersetzt werden, das höhere Prozesstemperaturen vertragen kann. Typische Glasübergangstemperaturen [Tg] von FR4-Material liegen im Bereich von 140 ºC. Diese Eigenschaft des Laminatmaterials muss um weitere 30 bis 40 K nach oben verschoben werden, wenn wir das Risiko bei den thermischen Bedingungen der Lötprozesse gering halten wollen. Hier spricht man z.B. über „hi-temp“ FR4, ein Material, das von verschiedenen Herstellern zwar angeboten wird, dessen Eigenschaften aber noch nicht klar definiert sind (z.B. durch eine Norm).
2. Der Lötstopplack
Die bekannten Lötstopplacke haben speziell beim SnPb-Schwalllöten bereits gewisse Probleme. Lotperlen sind dabei nur das bekannteste von mehreren. Sollten wir mit der Temperatur weiter nach oben gehen müssen, so werden auch die Lötstopplacke über ihre Grenze hinaus gefordert werden. Leider zeigt sich im Augenblick noch kein verbessertes Material am Horizont. Hier wird man – mindestens mittelfristig – mit einer wesentlich sorgfältigeren Verarbeitung beim Leiterplattenhersteller (z.B. Polymerisierung) vorlieb nehmen müssen, will man nicht neue Schwierigkeiten in die Bleifreitechnik hinein projizieren.
3. Die metallische Endoberfläche
Für viele Anwendungen – nicht unbedingt für alle – bedeutet „bleifrei“ wirklich bleifrei. Das heißt, dass die metallische Endoberfläche kein Blei enthalten darf.
In Untersuchungen [1] hat sich gezeigt, dass geringe Spuren von Blei in den Lötstellen zu einem Phänomen führen, das man als „niedrig schmelzende Phasen“ in der Literatur wiederfindet (und unter anderem auch – eventuell irrtümlicherweise – mit dem Phänomen des „fillet lifting“ in Verbindung gebracht wird). Diese Bezeichnung beschreibt die Tatsache, dass sich in solchen Lötstellen Zonen ausbilden, in denen eine Legierung (meist ein Eutektikum) angelagert wird, das bei wesentlich niedrigeren Temperaturen schmilzt, als der Rest der Lötstelle. Solche Einschlüsse reduzieren aber die Zuverlässigkeit der Lötstelle und sind deswegen nicht akzeptabel.
Man muss jedoch erwähnen, dass für Lote wie z.B. SnAgCu eventuell geringe Mengen von Blei „annehmbar“ sind, wobei man sich noch nicht recht schlüssig ist, wo der Grenzwert zu finden ist. Gewisse Unterschiede zwischen „Schwall“ und „Reflow“ werden ebenfalls gesehen.
Glücklicherweise gibt es seit Jahren bereits Alternativen zu den bleihaltigen Endoberflächen. Die bekanntesten sind sicherlich:
  • stromlos Zinn,
  • galvanisch Zinn,
  • Nickel/Gold,
  • OSP/OCC.
Etwas exotischer erscheinen dann schon andere:
  • Organisch Ag,
  • Pd oder Ni/Pd oder gar
  • Ni/Au/Pd.
Mit bleifreier Heißverzinnung hat man Fortschritte gemacht [2]. Jedoch sind die hohen Temperaturen, die für bleifreie Legierungen nötig sind, sehr „stressig“ für das Laminatmaterial, besonders bei Multilayers. Wir können also erwarten, dass in diesen Prozessen die Delaminierung wieder öfter auftreten wird.
Zu diesem Zeitpunkt müssen wir also die Informationen über diese beiden Aspekte unserer Leiterplatten zusammenstellen, damit wir bei einer anstehenden Entscheidung über das zu wählende Lot auch die notwendigen Daten vorliegen haben. Gleichzeitig sollten wir an den Leiterplattenlieferanten herantreten und mit ihm bereits jetzt die Alternativen durchsprechen, auch was die Preise betrifft. Denn hier treffen sich die unterschiedlichsten Meinungen und man ist gut beraten, sie im Vorfeld zu eruieren. Für die technischen Details müssen wir mit technischem Personal zusammentreffen, denn solche Probleme lassen sich nur mit sehr wenigen Verkäufern wirklich klären.
Bauteile
Allgemein wird erkannt, dass sich hier das größte Problem der Umstellung auftut. Das liegt an vielen verschiedenen Aspekten. Wir wollen hier nur einige ansprechen:
1. Thermische Empfindlichkeit
Die Temperaturempfindlichkeit ist wohl zuerst zu nennen. Viele Bauteilhersteller geben sowohl spezifische Werte für die maximal erlaubte Temperatur an, als auch die Verweildauer bei darunter liegenden Prozess-Temperaturen.
Dies hat zum Teil mit den verwendeten Plastikmaterialien zu tun, die den Bauteilkörper ausmachen, zum Teil mit inneren Verbindungen (Lötungen) und selbst mit den thermisch leitenden Klebern, die die Chips im Inneren befestigen. Bei Elkos „kocht“ eventuell der Elektrolyt und ob dickere Deckel die Antwort dafür sind, bleibt erst einmal abzuwarten. Bei anderen Bauteilen werden sowohl die Gradienten beim Temperaturanstieg als auch –abfall detailliert festgelegt. Der Grund ist in den unterschiedlichen Ausdehnungskoeffizienten der Materialien (z.B. Keramik und Metalloxid bei Kondensatoren) zu finden.
Während beim Reflowlöten Verweildauer und Temperatur einen hohen Einfluss haben (Bild 1), ist beim Schwalllöten neben dem Aufheizgradienten der Sprung von der Vorheizung in das flüssige Lot oft der wesentliche limitierende Parameter. Viele Bauteile bedingen sich einen Grenzwert dafür von maximal 100 K aus, was bei den meisten „bleifreien“ Loten eine wesentlich höhere Vorheiztemperatur bedeuten würde (Bild 2). Obgleich auf allen diesen Gebieten von einigen Bauteilherstellern viel Arbeit geleistet wurde, haben andere die Weiterentwicklung nicht nachvollzogen oder hinken zeitlich weit hinter dem vom Anwender gewünschten Plan hinterher.
2. Feuchtigkeitsabsorption
Der Popcorneffekt bei Plastikbauteilen ist gefürchtet, weil eine Erkennung der Frühschäden sehr schwierig ist. „Vapor Dome“ und „innere Delaminierung“ werden weder von normalen Röntgengeräten noch visuell erkannt, können aber zu katastrophalen Ausfällen führen.
Bei bleifreien Anwendungen hat sich der Popcorneffekt wegen der höheren Temperaturen vermehrt gezeigt. Die Grenzwerte der gewichtsmäßigen Anteile von Feuchtigkeit und anderen ausgasenden Chemikalien werden wohl neu festgelegt werden müssen. Leider hat sich soweit noch kein Plastikmaterial finden lassen, das diesbezüglich ideale Eigenschaften hat. Jene, die bezüglich der Feuchtigkeitabsorption ein besseres Verhalten aufweisen, haben sich beim Bauteilherstellungsprozess als problematisch erwiesen.
3. Endmetallisierung
Die Endmetallisierung ist wie bei der Leiterplatte und aus nämlichen Gründen als bleifrei zu spezifizieren. Obgleich es auch hier eine relativ große Auswahl von Ausweichmöglichkeiten gibt, ist es häufig äußerst schwierig, eine zuverlässige Auskunft zu erhalten. Viele Bauteile werden ja nicht direkt vom Hersteller gekauft, sondern über Zwischenstationen wie Händler und Agenten. Da der Firmen-Einkauf auch „traditionell“ diesen Aspekt nicht spezifiziert hat, steht der Anwender vor einer Mauer, die schwer zu durchdringen ist. Laboranalysen bringen zwar Aufschluss, sind jedoch teuer und in den Mengen, wie sie für die oft Tausenden von Bauteilen und Losnummern nötig werden, weitgehend unrealistisch. Zudem haben sich viele Bauteilhersteller dahingehend geäußert, dass sie bis zur totalen Umstellung auch ohne Kennzeichnung gemischte Chargen liefern werden.
4. Dendriten oder besser „Whiskers“
Whiskers sind das Ergebnis „spontanen“ Kristallwachstums. Hier sind Zinn und Silber einige der primären Kandidaten. Blei wurde in der Bauteilindustrie (aber auch bei der Leiterplatte) oft als Mittel verwendet, das Whiskerwachstum zu reduzieren oder zu eliminieren. In den letzten Jahren – in Voraussicht des Verschwindens von Blei – hat man viel Energie in die Erforschung des Whiskerwachstums gesteckt. Schließlich sind intermittierende Ausfälle des Produktes auf solche Einzelkristalle zurückgeführt worden und sie bedeuten natürlich ein erhöhtes Risiko bei vielen kritischen Anwendungen (Raumfahrt, Telekommunikation, Luftfahrt, Automobiltechnik…). Untersuchungen haben gezeigt [3], dass gewisse Maßnahmen (Nickelunterschicht; Umschmelzen) helfen, das Problem zu minimieren. Jedoch ist die ultimative „Lösung“ für die Zeit „nach dem Blei“ noch nicht gefunden.
5. Zuverlässigkeit
Die Langzeit-Zuverlässigkeit der Baugruppe hängt ebenfalls von Eigenschaften der Bauteile ab. Hier spielt die Beweglichkeit der Anschlüsse eine wesentliche Rolle. Vor allem bei solchen Bauteiltypen wie SCC (Solder Column Connectors) wäre das steifere Verhalten der Ersatzlote gegenüber der plastischen Verformbarkeit der SnPb-Lote ein Nachteil. Auch andere Bauteilformen werden von diesem Aspekt tangiert. Das hat bei einigen Anwendern bereits zu einem vermehrten Einsatz von „undercoat“ geführt – mit all den positiven (erhöhte Zuverlässigkeit) und negativen (keine Reparatur, höhere Kosten) Einflüssen, die eben mit solchen Prozessen zu erwarten sind.
Kompensation für mangelnde Information über die verschiedenen Eigenschaften der Bauteile, die wir im Prozess brauchen werden, ist ein Problem, das noch viele Arbeitsstunden verschlingen wird.
Daten sammeln
Wir fangen mit einer Auflistung aller Baugruppen an, die gefertigt werden. Hierzu gehören auch die Stückzahlen (pro Tag, Monat oder Jahr).
Somit werden die Leiterplatten und deren Herkunft identifiziert. Da meist von verschiedenen Herstellern gekauft wird, müssen diese aufgelistet werden. Wenn möglich werden dann noch gewisse Eigenschaften, wie Qualitätsunterschiede (Anzahl der Mangelrügen etc.), sofort mit erfasst.
Nachdem man diesen ersten Datensatz erstellt hat, werden für jede individuelle Leiterplatte die Eckdaten zugefügt: Laminatmaterial, Lötstopplack, Endoberfläche. Aus den Design- oder Layoutvorgaben können nun erst einmal die Spezifikationen der Bauteile, die zu jeder Baugruppe gehören, abgeleitet werden. Sind diese einmal typenmäßig (generisch) erfasst, so geht man an die Aufgabe, die Details (tatsächlicher Hersteller) der Bauteile festzustellen. Es ist offensichtlich, dass eine derartige Aufgabe ausufern kann, wenn die Vorarbeit nicht schon früher geleistet wurde. Aber zumindest sind für die kritischen Bauteile festzuhalten:
  • maximale Prozesstemperatur,
  • maximale Verweildauer bei Höchsttemperatur,
  • maximaler Gradient beim Temperaturanstieg,
  • maximaler Gradient bei Kühlung,
  • Metallisierung bleihaltig oder nicht.
Die beigefügten Tafeln sollen wieder dazu dienen, firmenspezifische Hilfmittel zu entwickeln, und die Datenerfassung zu erleichtern und zu kanalisieren.
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