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Stickstoff für Lötprzesse wirtschaftlich vor Ort erzeugen

Selektivlöten von Keyless-Entry-Systemkomponenten
Stickstoff für Lötprozesse wirtschaftlich vor Ort produziert

Seit 2018 produziert Huf Electronics Düsseldorf hochwertige Elektronik für die Automobilindustrie, unter anderem elektronische Bauteile für Keyless-Entry-Systeme, an seiner Produktionsstätte in Ratingen. Zu den Kernprozessen gehören diverse Lötaufgaben, bei denen Stickstoff als Inertgas eingesetzt wird. Das Gas wird von einem N2-Generator von Atlas Copco erzeugt. Die Eigenerzeugung ist wirtschaftlicher als eine klassische Tanklösung, war sehr schnell umsetzbar – und die Qualität der Komplettlösung überzeugte den Anwender.

Wer sein Auto komfortabel öffnen möchte, profitiert besonders von der Entwicklung sogenannter Keyless- oder Passive-Entry-Systeme, die an immer mehr Automodellen den schnelleren Zugang zum eigenen Kraftfahrzeug erlauben. Ein Griff zur Tür genügt, damit sie sich öffnen lässt. „Dazu muss sich der Schlüssel in der Nähe des Autos befinden“, erklärt Lothar Baer, Geschäftsführer der Huf Electronics Düsseldorf GmbH. Sonst hätte ja jeder freien Zugang. „Das Geheimnis sitzt im Außentürgriff des Autos und ist ein elektronisches Bauteil, das mit dem passenden Schlüssel kommuniziert“, verrät der Ingenieur. Und zwar ausschließlich mit diesem. „Ein kapazitiver Sensor reagiert bei ‚Hand auf Griff‘ und weckt damit die Fahrzeugelektronik. Wenn der richtige Schlüsselcode in der Nähe verfügbar ist, lässt sich die Tür öffnen.“ Den Code oder Key definiere der Automobilhersteller.

10 Millionen Griffelektroniken pro Jahr

Das Unternehmen entwickelt und produziert hochwertige Elektronik, die das Autofahren komfortabler machen soll. Das Produktportfolio umfasst Steuergeräte und Leiterplatten für Türen, Heckklappen, Schiebetüren, Dächer, Lenkradverriegelungen, Funkschlüssel sowie Telematikboxen. Huf gehört zu den ersten Unternehmen, die ein Passive-Entry-System entwickelt haben, bei dem die Elektronik in die Türgriffe integriert ist. „Ein Drittel unserer Produktion liefern wir an externe Kunden, primär Zulieferer der Automobilindustrie. Der Hauptteil geht an Schwestergesellschaften in der Unternehmensgruppe, die weltweit zu den führenden Herstellern von Türgriffen für Automobile gehört“, sagt Baer. Allein etwa 10 Millionen Griffelektroniken wurden 2018 an den Standorten Düsseldorf und Ratingen produziert.

Um die elektronischen Bauteile herzustellen, benötigt das Unternehmen unter anderem Druckluft und Stickstoff. Für deren Erzeugung wurde eine Anlage mit Maschinen von Atlas Copco am Standort in Ratingen erstellt. Mit der Entscheidung, den Stickstoff selbst zu produzieren, betrat das Unternehmen Neuland.

Selektivlötanlagen brauchen Stickstoff in hoher Qualität

In der neuen Halle in Ratingen sind heute ein Hochregallager und die Endmontage untergebracht. „Im Shopfloor arbeiten derzeit in einer Schicht 10 bis 15 Mitarbeiter“, führt Baer durch den Produktionsbereich, in dem noch viel Raum für weitere Maschinen ist, der in Kürze gefüllt werden soll. An einer Selektivlötmaschine wird gerade das entscheidende elektronische Bauteil für die Keyless-Systeme bearbeitet. Ein Werker bestückt an diesem Arbeitsplatz Leiterplatten in der sogenannten Durchsteckmontage („THT“; through-hole technology) mit mehrpoligen, bedrahteten Steckern und schiebt sie anschließend auf einem Werkstückträger in die Maschine, wo sie „selektiv“ verlötet werden.

„Beim Selektivlöten werden nach einem programmierten Ablauf die zu verlötenden Stellen zunächst mit einem Sprüh-Flussmittel benetzt und dann präzise über einer Minilötwelle positioniert“, erklärt Lötexperte Petrit Limani den Prozess. Eine magnetische Pumpe fördert das Lot aus einem Tiegel, in dem Lotmaterial bei etwa 300 °C flüssig gehalten wird, in den Kanal und durch eine Düse nach oben, so dass sich die typische Lötwelle bildet. „Der Lötbereich in der Maschine wird von Stickstoff als Schutzgas umströmt“, erklärt Limani weiter. Das Lot erhalte durch den Stickstoff seine idealen Fließeigenschaften. Das Inertgas verhindere zudem Zinnkrätze an den Düsen, denn es verdränge den Sauerstoff, der sonst im Prozess dazu führen könnte, dass sich eine unerwünschte Oxidschicht bildet. „Hierdurch könnte die Pumpe verstopfen und die Welle beispielsweise pulsieren, so dass kein qualitativ einwandfreier Auftrag gewährleistet wäre.“

Qualität sei aber die höchste Maxime, sagt Geschäftsführer Lothar Baer. Alle Produkte, die das Unternehmen ausliefere, müssten zu 100 % in Ordnung sein. „Sonst drohen nicht nur Rückrufe oder Gewährleistungsschäden, die uns viel Geld kosten können, sondern wir würden das Vertrauen unserer Kunden verlieren.“ Der Elektronikhersteller verarbeite viele Standardkomponenten im Cent- bis Millicent-Bereich, die das Unternehmen von Zulieferern erhalte. „Selbst für diese sind wir ein Filter und müssen dafür sorgen, dass schadhafte Teile nicht in den weiteren Produktionsprozess gelangen.“ Neben der Qualität spielten in dem preissensiblen Markt wirtschaftliche Faktoren eine Rolle, um im Wettbewerb bestehen zu können.

Stickstoff-Tanklösung hätte ein Fundament erfordert

„Um bei der Stickstoffqualität auf der sicheren Seite zu sein, haben wir bei der Planung zunächst an eine Tanklösung mit Flüssigstickstoff gedacht, wie wir sie auch in Düsseldorf einsetzen“, sagt Baer. „Allerdings wäre hierfür in Ratingen ein Fundament nötig gewesen, für das wir eine Baugenehmigung gebraucht hätten.“ Das hätte wertvolle Zeit verschlungen. Um Alternativen abzuklopfen, wandte sich Huf an Atlas Copco. Der Essener Hersteller stellt schon im Düsseldorfer Werk Kompressoren und hat auch Stickstoffgeneratoren im Programm. „Wir befürchteten zunächst, dass wir den Stickstoff nicht in der erforderlichen Menge und Reinheit mit Generatoren erzeugen können“, gibt Jörg Stemmert zu, der als Leiter Instandhaltung und Facility Management in Düsseldorf und Ratingen die Versorgung verantwortet. „Wir benötigen für die Lötanlagen derzeit 18 Kubikmeter Stickstoff pro Stunde – an fünf Tagen die Woche, rund um die Uhr.“ Für das Selektivlöten sollte eine Stickstoffqualität zwischen 4.0 und 5.0 zur Verfügung stehen, ergänzt Limani. Für die Lötprozesse am Standort Düsseldorf wird aufgrund der zentralen Flüssiggasversorgung eine Qualität 5.0 zur Verfügung gestellt. Das entspricht einer Reinheit von 99,999 Volumenprozent.

Komplettstation stand schneller zur Verfügung und ist wirtschaftlicher

Auch die Stickstoffgeneratoren übertreffen die Anforderungen an die N2-Reinheit: Sie erzielen bis zu 10 ppm, also ebenfalls 99,999 %. Zudem sind sie im konkreten Fall wesentlich wirtschaftlicher als ein Stickstofftank und standen viel schneller zur Verfügung – nämlich ohne Bauantrag und Bauzeiten. Ferner konnte die Station direkt in der Halle stehen, neben dem Bereich der Endmontage. Daher überzeugten die Berechnungen – nach vielen Diskussionen und Zahlenvergleichen – alle Beteiligten: Die Tanklösung für Flüssiggas hätte fast das Doppelte gekostet – und die laufenden Kosten je Kubikmeter Stickstoff wären auch höher gewesen.

Der Elektronikhersteller entschied sich daher für die Installation einer Druckluft-Stickstoff-Station des Unternehmens in der Ratinger Halle. Dort steht nun ein Stickstoffgenerator des Typs NGP 70+, der mit einem Kohlenstoffmolekularsieb arbeitet, durch das Sauerstoff und Stickstoff nach dem Prinzip der Druckwechseladsorption getrennt werden. Ein drehzahlgeregelter Schraubenkompressor des Typs GA 22 VSD+ FF versorgt den NGP 70+ mit der nötigen Druckluft. Beide Maschinen gehören jeweils zur höchsten Effizienzklasse in ihrer Produktrange. Der öleingespritzte Kompressor ist für hohe Leistung und Produktivität ausgelegt, benötigt wenig Stellfläche und zeichnet sich durch geringen Stromverbrauch und niedrige Betriebskosten aus. In der „Full-Feature-Version“, auf die das Kürzel FF hinweist, ist ein Kältetrockner integriert. Ein zusätzlicher Filter des Typs UD+ scheidet effektiv Öl-Aerosolpartikel, Nassstaub und Wassertropfen ab und stellt die für die N2-Erzeugung erforderliche Druckluftqualität sicher.

Komplette Anlage aus einer Hand

„Wichtig war uns auch, dass wir eine schlüsselfertige Anlage erhalten, weil wir das nicht selbst stemmen konnten“, sagt Geschäftsführer Baer. „Wir haben mehrere Angebote eingeholt, und nur Atlas Copco war in der Lage, das komplette System aus einer Hand zu liefern.“ Für die Umsetzung der Anlage vor Ort holte das Unternehmen seinen Handelspartner Luft-Vogel Drucklufttechnik mit Sitz in Neunkirchen ins Boot, der bei der Planung und Installation unterstützte. „Wir haben über 130 Meter AIRnet-Leitungen für Stickstoff und Druckluft in der Halle installiert, die alle Maschinen im Shopfloor versorgen“, sagt Instandhaltungsleiter Stemmert. AIRnet ist ein einfach zu montierendes Rohrleitungssystem, das dicht und korrosionsfrei ist. Es ist leicht anzupassen und zu erweitern. „Insgesamt haben wir 34 Anschlüsse vorgesehen, da der Maschinenpark in den nächsten Monaten noch erweitert werden soll“, sagt Stemmert. „Für die fünf Selektivlötanlagen ist jeweils ein Stickstoffzugang vorgesehen.“

Zwei Druckluftkessel und ein Stickstoffbehälter, die Spitzen beim Produktionsanlauf abfangen, komplettieren die Anlage, die im Produktionsbereich direkt neben dem Hochregallager untergebracht ist. „Das ist ein weiterer Vorteil gegenüber einer Tanklösung, da keine größeren Entfernungen zu den Verbrauchern mit Zuleitungen überbrückt werden mussten.“ Der GA-Schraubenkompressor liefert die in der Halle benötigte Druckluft und versorgt auch den Stickstoffgenerator, und zwar mit etwas über 105 m3 Druckluft pro Stunde. Diese reichert der NGP auf etwa 19 m3 Stickstoff an. Dieser „Druckluftfaktor“ von etwa 5,6 sei im Marktumfeld extrem niedrig und damit hocheffizient, sagt Stickstoff-Experte Ronny Toepke: „Faktisch haben wir hier die energiesparendste Möglichkeit, Stickstoff zu erzeugen!“ Mit seinen Amortisationsrechnungen konnte Toepke daher auch das Team des Elektronikherstellers überzeugen. Der Kompressor übrigens liefert weitere 90 m3/h Luft mit einem Druck von 8 bar für pneumatische Steuerungen und Venturi-Düsen in der hochautomatisierten Produktion.

Stickstoff selbst erzeugen lohnt bei Neubau noch mehr

Im Düsseldorfer Werk liegt der Schwerpunkt auf der Verarbeitung von SMD-Komponenten mittels Reflow-Lötverfahren („SMD“ = surface-mounted device, oberflächenmontiertes Bauelement ohne Drahtanschlüsse). Bei dieser Verbindungstechnologie wird per Schablonendruck eine Lotpaste auf die Leiterplatte aufgetragen. Nach der anschließenden Bestückung der SMD-Bauteile wird die Leiterplatte in einen sogenannten Reflow-Ofen transportiert. Bei circa 217 °C schmilzt die Lotpaste auf und stellt damit die elektrische Verbindung zwischen den elektronischen Bauteilen und der Leiterplatte her. Auch dieser Prozess läuft unter Stickstoff-Atmosphäre ab; hier wird die gesamte Maschine regelrecht mit Stickstoff geflutet. „In Düsseldorf brauchen wir deshalb viel mehr Stickstoff, etwa 200 Kubikmeter pro Stunde“, sagt Baer.

Während in Düsseldorf ein Tank regelmäßig von einem Stickstoff-Lieferanten befüllt wird, sprachen in Ratingen die Kalkulationen für einen Generator. „Als wir die Investition in die Maschinen den Kosten für eine Tanklösung gegenübergestellt haben, floss auch der Aufwand für ein neues Fundament, Tank und Tankmiete samt Baugenehmigung in unsere Berechnungen mit ein“, betont Baer. „Es zeigte sich, dass sich die Atlas-Copco-Lösung in unter einem Jahr rechnen würde.“ Jetzt sei lediglich noch Redundanz ein Thema, um sämtliche Risiken auszuschließen.

Seit Sommer 2018 arbeitet das Team in Ratingen aktiv in der Produktion. Die Entscheidung für die Stickstoffeigenerzeugung habe man bisher nicht bereut. „Das Konzept wurde super umgesetzt. Unser Instandhalter, Luft Vogel und Atlas Copco haben gut zusammengearbeitet, der Preis hat gepasst, die Qualität und der Termin passten auch“, sagt Geschäftsführer Baer. Im März 2018 wurde das Angebot eingeholt, im Juni war die Anlage bereits einsatzbereit. „Wir mussten die Produktion in Ratingen sehr schnell hochfahren und haben direkt dreischichtig produziert. Da durfte nichts schiefgehen, die Stickstoffversorgung musste von Anfang an zuverlässig laufen, die geforderte Reinheit und Menge bringen. Das hat alles perfekt funktioniert“, resümiert Baer.

Remote-Überwachung per Smartlink möglich

„Atlas Copco hat geliefert, was versprochen wurde, daher lassen wir die Anlage auch durch den Hersteller warten“, sagt Baer, der als Kunde sorglos sein möchte. Ein Wartungsvertrag über fünf Jahre sowie das Fernüberwachungssystem Smartlink helfen dabei: „Wir können den Verlauf der Verbrauchszahlen einsehen, Grenzbereiche im Bedarf erkennen und werden über Störungen informiert“, zählt Stemmert auf. „Und per Remote kann ich auch von Düsseldorf aus einfach auf das System zugreifen.“ Dort wird übrigens auch in nächster Zeit beim Stickstoffverbrauch der Zenit erreicht werden. „Für künftige Produktionsausdehnungen oder neue Standorte werden wir auf jeden Fall wieder über Stickstoff-Generatoren diskutieren, wenn eine Erweiterung fällig werden sollte“, sagt Baer.

www.atlascopco.de; www.huf-group.com



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