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Vor zwei Jahren wurde bei Siemens EWA ein Projekt gestartet, das sich mit der Restrukturierung der bestehenden Fertigung befasst. Ausschlaggebend für diesen Schritt waren die schwankenden Auftragsgrößen der unterschiedlichen zu fertigenden Produkte. Setzte man bisher erfolgreich auf eine produktorientierte Fertigung, kam man nun an entsprechende Grenzen.
„Wir haben in den letzten Jahren festgestellt, dass wir mit dem bisherigen Konzept unflexibel sind, da man bei schwankenden Stückzahlen eine zweite Produktionsline braucht oder die Auslastung der bestehenden Fertigungslinien optimieren muss“, so Bernhard Erras, Bereichsleiter Digital Industries Factory Automation Siemens EWA Amberg.
Produktvielfalt erfordert neue Lösungen
Bei begrenztem Platzangebot eine Ausweichlinie zu implementieren ist nur mit hohem Aufwand möglich und Produktumstellungen zur Auslastung bestehender Linien ziehen lange Rüstzeiten nach sich.
Beide Optionen sind nicht zufriedenstellend. Die
Lösung für das Werk in Amberg waren das Clustern der Prozesse und die Einführung eines Shop-Floor-Managements. Heute gibt es im Bereich der Flachbaugruppenfertigung des Elektronikwerks einen Cluster für High-Volume und Low-Mix sowie einen Cluster für die Low-Volume- und High-Mix-Fertigung. Die 17 Bestandslinien, allesamt ausgestattet mit Reflow-Lötsystemen der VisionX-Serie von Rehm, wurden umgebaut und es entstanden 15 neue SMT-Fertigungslinien. „Am Anfang der Produktionskette steht die Flachbaugruppenfertigung mit der größten Anzahl an Linien. Diese sind in der Lage, den gesamten Produktumfang zu fertigen. Dabei produzieren wir in den sogenannten Supermarkt, aus dem sich dann die Montagelinien bedienen. Das Shop-
floor-Management fungiert also als Zwischenlager; ist dieses leer und der Mindestbestand wird unterschritten, wird automatisiert der nächste Auftrag gestartet“, erläutert Bernhard Erras das neue Cluster-Konzept in Kürze.
Wichtig hierbei war, dass die Linien und damit auch die Reflow-Lötanlagen mit identischer Hard- und Software ausgestattet sein mussten. Wenn eine Linie voll ausgelastet ist, muss die andere reibungslos übernehmen können. Doch wie so oft gibt es auch hier zwei Seiten: Mit der Flexibilität steigen auch die Komplexität der Fertigungsabläufe und die daraus resultierende zu kommunizierende Datenmenge und -vielfalt.
Erhöhung der Flexibilität
Um in Zukunft noch flexibler agieren zu können, ist eine der nächsten Linien vollautomatisiert geplant. Mittels einer Hermes-Schnittstelle ist eine automatisierte Prozesssteuerung und -dokumentation möglich. Der Datenaustausch erfolgt horizontal von Maschine zu Maschine (M2M). Die erste Anlage in der Linie erstellt das Hermes-Datenpaket, bei Einsatz eines Barcode-Lasers wird die Baugruppe gleichzeitig beschriftet. Hierbei gibt das Produkt die Daten vor, die dabei als digitaler Zwilling zusammen mit der Leiterplatte von Maschine zu Maschine weitergereicht werden. Dies erfolgt jedoch nicht über digitale Signale, sondern über ein Netzwerk. Die Schnittstellenkommunikation erfolgt über ein auf TCP/IP und XML basierendes Protokoll, das standardisierte Kabel und Datenformate nutzt. Dadurch werden Kosten reduziert und der Integrationsprozess vereinfacht. Neben dem Barcode der Baugruppe werden auch verschiedene Daten gespeichert und kommuniziert. Die Systeme von Rehm Thermal Systems sind für die neue Schnittstellenkommunikation vorbereitet, so dass dieser Prozessschritt problemlos integriert werden kann.
Die Optimierung der Produktionskapazitäten ist bei Siemens in Amberg stets ein aktuelles Thema. „Derzeit arbeitet das EWA im 3-Schicht-Regelbetrieb, beginnend am Sonntagabend mit der Nachtschicht bis Freitag zur Spätschicht bzw. bis Freitag zur sechsten Nachtschicht. Gegenwärtig arbeiten wir an einem 18-Schicht-Modell, um den Samstag als Regelarbeitstag mit einzubinden, abhängig vom Material und zusätzlichem Personal“, erklärt Bernhard Erras.
Durchdachtes Wartungskonzept der Lötsysteme
Mit dem 18-Schicht-Modell müssen auch die Wartungskonzepte neu überdacht werden, da der Samstag für eine geplante Wartung entfällt und auf den Sonntag ausgewichen werden muss. Wichtig ist daher für das Amberger Elektronikwerk, dass das Fertigungsequipment lange Wartungszyklen hat. Rehm hat hier bereits entsprechende Lösungen umgesetzt. Die Zugänglichkeit an den Anlagen wurde kontinuierlich über die Jahre optimiert und ein Filtertausch über Tauschsätze ist standardmäßig bei laufendem Betrieb möglich. So wird wichtige Produktionszeit gewonnen. Ein weiteres Thema ist die Kondensatabscheidung. „Wir haben einen enormen Durchsatz, den man sonst selten in dieser Größenordnung findet. Wir sprechen von 6 – 8 kg Lotpaste pro Schicht, da kommt jede Anlage an ihre Grenze. Immer wieder wurde hier mit der Firma Rehm diskutiert, wie die Anlage so stabil gehalten werden kann, dass sich so wenig Verschmutzungen wie möglich in der Anlage absetzen. Ein effizientes Filtersystem sorgt dafür, dass wir fast nicht eingreifen müssen. Die Implementierung der Pyrolyse in die VisionX-Systeme hat enorm weitergeholfen, sonst müssten wir vermutlich jeden Tag reinigen“, beschreibt Erras die Gegebenheiten vor Ort.
Redundante Systeme und Prozesse weltweit
Die Anforderungen an die steigende Automatisierung und Vernetzung stehen nicht nur im EWA Amberg im Vordergrund, sondern global gesehen ebenfalls im Schwesterwerk Siemens Electronics Works Chengdu (SEWC) in China. Daher war und ist es von Vorteil, dass Rehm Thermal Systems mit dem chinesischen Produktionsstandort in Dongguan direkt vor Ort in der Lage ist, das identische Equipment zu liefern. Da im SEWC die gleichen Produkte der Steuerungsfamilie Simatic S7 sowie der Bedien- und Beobachtungssysteme Simatic HMI vom Band laufen wie in Amberg, müssen auch die Anlagen mit den gleichen Parametern und Produktprogrammen konfiguriert werden. Bei den Reflow-Lötsystemen ist es möglich, die Produkte in Amberg einzufahren und das Programm anschließend 1:1 auf die Anlagen im chinesischen Werk zu übertragen, unabhängig davon, in welcher Produktionsstätte die VisionXP-Lötsysteme gefertigt wurden. Das sichert die gleichbleibende, langlebige Qualität der gefertigten Steuerungen weltweit. Ein wichtiger Wettbewerbsvorteil für Siemens, auch im Hinblick auf die derzeit erschwerten Transportbedingungen.
Die Implementierung des Cluster-Konzeptes in die bestehende Produktionsumgebung sorgt dafür, dass die Standardisierung von Prozessen und Equipment weiter vorangetrieben wird. Sowohl im Bereich Hardware als auch in der Software setzt man bei allen Partnern auf standardisierte Systeme. „Durch die Standardisierung ist die Fertigung der Simatic viel effizienter geworden. Vor allem bei der derzeit voll ausgelasteten Produktion hilft dies ungemein“, so Erras.
Innerhalb einer SMT-Fertigungslinie liefert jedes einzelne System – ganz gleich ob Transportband, Drucker, Bestücker, Lötsystem oder AOI – eine Vielzahl an Informationen über den Zustand der Anlagen und die laufende Fertigung. Diese Daten gilt es zu erfassen, zu bündeln und auszuwerten. Rehm bietet hier zahlreiche Tools innerhalb des Software-Portfolios. Dazu gehören eine individuelle MES-Anbindung ebenso wie die standardisierte Traceability-Funktion und eine Prozessverriegelung zur Gewährleistung der Prozesssicherheit.
Software-Tools für Transparenz
Mit der Entwicklung der neuen Anlagensoftware ViCON hat Rehm eine neue Generation von Anlagensoftware eingeführt. Dreh- und Angelpunkt für das Sammeln und Auswerten der Informationen ist die Betriebsdatenerfassung. Hierbei handelt es sich um alle prozessrelevanten Maschinendaten, die das Reflow-Lötsystem zur Verfügung stellt. Diese umfassen sowohl Transportgeschwindigkeit, Temperaturen, Lüfterdrehzahlen, Energieverbrauch und Stickstoffverbrauch als auch Einstellparameter, Produktinformationen und Statusanzeigen. Mit dem steigenden Anteil an Sensorik in modernen Fertigungssystemen gewinnt die gezielte Sammlung und Auswertung der Vielzahl an Daten immer mehr an Bedeutung. „Durch den Einsatz der neuen ViCON Anlagensoftware auf allen VisionXP+ Reflow-Lötsystemen sind wir nun jederzeit in der Lage, die Systeme zu synchronisieren und unabhängig vom Alter der Anlage auf den gleichen Stand zu bringen. Das wäre mit der Vorgängerversion nicht möglich gewesen“, erklärt Erras.
Doch trotz Fokus auf Produktionssteigerungen werden auch wichtige globale Themen nicht vernachlässigt. Im Hinblick auf eine CO2-neutrale Fertigung wurde werksübergreifend ein Team gebildet, das die Erreichung der Konzernziele wie ein robustes Ökodesign für alle relevanten Siemens Produktfamilien bis 2030, die Entkopplung von natürlichen Ressourcen durch verstärkten Einkauf von Sekundärmaterialien für Metalle und Kunststoffe und eine konsequente Kreislaufwirtschaft durch die Reduktion des Deponieabfalls um 50 % bis 2025 sowie eine weitere Reduktion des Deponieabfalls bis 2030 weiter vorantreibt.
Ein Baustein auf dem Weg zur CO2-neutralen Fertigung ist die abteilungsübergreifende Erfassung der Betriebsdaten im EWA, die bereits seit mehreren Jahren durchgeführt wird. Vor allem der Energieverbrauch wird hier unter die Lupe genommen. In der SMD-Fertigung nimmt das Lötsystem durch die hohen Betriebstemperaturen einen entsprechenden Stellenwert ein. „Rehm hat in der Vergangenheit durch die kontinuierliche Optimierung der Lötsysteme, die wir immer wieder in regelmäßigen Meetings gemeinsam diskutiert haben, einen großen Schritt im Bereich Energieeffizienz getan. So können wir heute bei gleichem Energieverbrauch nachweislich einen höheren Durchsatz erzielen“, bestätigt Bernhard Erras.
Die Zukunft der Elektronikfertigung bleibt spannend. Automatisierung, Vernetzung, nachhaltige Produktion und Ressourcenschonung sind Themen, die die Branche auch weiterhin beschäftigen werden.
Bernhard Erras, selbst seit mehr als 40 Jahren in der Elektronikfertigung zuhause, blickt auf die Anfänge der SMD-Produktion zurück: „Ich habe die ganze Entwicklung vom Beginn der Flachbaugruppenfertigung bis zur vollautomatisierten SMD-Linie miterlebt und erinnere mich noch gut an die manuelle Bestückung mit Handarbeitsplätzen. Wenn man heute sieht, was die Maschinen für Funktionalitäten beinhalten und für welche Anforderungen im Hinblick auf Automatisierung und Vernetzung sie gewappnet sein müssen, ist das sehr beeindruckend – und das Ende der Fahnenstange ist hier sicher noch nicht erreicht.“
Über Siemens Amberg:
Am Standort Amberg fertigen und entwickeln zwei Werke und eine Entwicklungseinheit Produkte und Lösungen für den Weltmarkt.
Mit der Steuerungsfamilie Simatic S7 sowie den Bedien- und Beobachtungssystemen Simatic HMI, die im Elektronikwerk Amberg (EWA) vom Band laufen, nimmt Siemens eine weltweit führende Position ein. Im Gerätewerk (GWA) werden Produkte für industrielle Schalttechnik wie Sirius (Schalten und Schützen von Verbrauchern wie beispielsweise Motoren) gefertigt. Darüber hinaus werden am Standort noch Leistungsschalter für industrielle Anwendungen, Infrastruktur und Gebäude entwickelt. Der mehrfach preisgekrönte Standort produziert unter Einsatz modernster Informations- und Fertigungstechnologie und bildet damit die Blaupause für die digitale Fabrik der Zukunft. Einblick für Kunden und Partner bietet das 2021 eröffnete Besucherzentrum „The Impulse“, in dem digitale Technologien, Konzepte und Automatisierungslösungen für die autonome Fabrik entwickelt und vorgestellt werden.
Rehm Thermal Systems:
Die Firma Rehm zählt als Spezialist im Bereich thermischer Systemlösungen für die Elektronik- und Photovoltaikindustrie zu den Technologie- und Innovationsführern in der modernen und wirtschaftlichen Fertigung elektronischer Baugruppen. Als global agierender Hersteller von Reflow-Lötsystemen mit Trocknungs- und Beschichtungsanlagen, Funktionstestsystemen, Equipment für die Metallisierung von Solarzellen sowie zahlreichen kundenspezifischen Sonderanlagen ist das Unternehmen in allen relevanten Wachstumsmärkten vertreten und realisiert als Partner mit über 30 Jahren Branchenerfahrung innovative Fertigungslösungen, die Standards setzen.