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„TEMPO IST ALLES IN DIESEM LAND“

Christoph Heiniger, Leiter Entwicklung & Technologie, Schleuniger AG, schildert seine persönlichen Eindrücke von China
„TEMPO IST ALLES IN DIESEM LAND“

Wie funktioniert das Kabelbusiness? Lohnt sich ein Besuch der Productronica in Shanghai? Sind die Arbeitsbedingungen wirklich so anders als in Europa? Christoph Heiniger vom Schleuniger Headquarters in Thun (Schweiz) besuchte China anlässlich der Productronica 2008. Seine persönlichen Eindrücke vermitteln ein spannendes Stimmungsbild einer sich im rasanten Tempo entwickelnden Gesellschaft und Wirtschaft.

Ankunft in China: “Do you want a Rolex-Copy? We have good ones!“ Diese Frage kennen wohl alle westlichen Reisenden, die ihren Fuß in eine chinesische Innenstadt setzen. Die Präzisierung lässt dann aber aufhorchen und sogleich tiefer blicken. Erstens: Offenbar gibt es gute und weniger gute Kopien. Zweitens: Es macht den Anschein, dass Qualität ein ernstzunehmendes Differenzierungsmerkmal ist – „Quality sells“ scheint auch hier zu gelten. Drittens: Niemand scheut sich hier zuzugeben, dass es sich um eine Kopie eines Markenprodukts handelt. Diese kurze Begegnung sagt dem mittelständischen Westler, der in China gute Geschäfte machen will, schon sehr viel.

Besuch der Productronica China 2008
Beim Durchschreiten der Hallen der Productronica China 2008 kommen einem die einfachen Sätze des Straßenverkäufers immer wieder in den Sinn. Die Chinesen haben enorm viel gelernt. Die Maschinen der einheimischen Hersteller zeigen nun auch sauber bearbeitete Oberflächen, einwandfreie Lackierung, präzise Mechanismen, Elektronikeinsatz allüberall. Dass die ausgestellten Maschinen Qualitätsprodukte sind, wird anhand omnipräsenter, auf Posterformat gebrachter ISO 9000 – Zertifikate renommierter Prüforganisationen stolz hervorgehoben. Es sticht ins Auge, dass viele einheimische Produkte nach wie vor mehr oder weniger eins zu eins Kopien europäischer oder japanischer Maschinen sind. Amüsant ist, dass auch gleich Teile der westlichen Typenbezeichnung übernommen werden – damit auch wirklich sofort klar wird, welche Maschine als Vorbild gedient hat.
Die hier versammelten Produkte widerspiegeln den lokalen Bedarf. Es geht klar um Massenproduktion. Kleine, schnelle Maschinen für die Herstellung von Konsumgütern sind viel stärker vertreten als an Ausstellungen in Europa. Die Kabel sind dünner, die Kontakte feiner, die Stückzahlen um ein Vielfaches größer als bei uns.
Nach wie vor fehlen an den meisten, der hier präsentierten Produkte, die bei uns üblichen Sicherheitsmerkmale. Schutzhauben und auch Not-Aus-Schalter sucht man vergeblich. Es scheint, dass die chinesischen Arbeiterinnen und Arbeiter noch nicht denselben Stellenwert genießen, den Arbeitskräfte bei uns im Westen glücklicherweise innehaben. Wir können gespannt sein, wie lange es noch geht, bis sich auch hier die internationalen Sicherheitsstandards durchsetzen. Auffallend ist der allgegenwärtige Einsatz farbiger, berührungssensitiver Bildschirme für die Maschinenbedienung. Es ist offensichtlich: Die neuste Technik soll eingesetzt und gezeigt werden. Dass dabei der Gebrauchsnutzen durch die vielen schrillen Farben im Mickey-Mouse-Stil leidet und die etwas chaotische Bedienerführung wenig zum produktiven Einsatz beiträgt, scheint hier niemanden zu bekümmern. Das Erscheinungsbild, der an der Productronica China vertretenen Firmen, variiert ganz erheblich: Appetitlich präsentierte Produkte, professionelle Videoproduktionen, Ausstellungsstände in gediegenen Materialien, des Englischen kundiges Personal wechselt ab mit Ständen, wo möglichst viele Maschinen auf möglichst wenig Platz zu finden sind, Marketing aus fotokopierten Prospekten besteht und scheues „chinese only“-Verkaufspersonal, gesenkten Blickes dem Westler begegnet.
Kleinere chinesische Firmen richten sich nach wie vor ausschließlich nach den Bedürfnissen des Binnenmarktes. Sie verfügen meist über keinen Zugang zu den Westmärkten. Dies liegt einerseits an der sehr starken Binnennachfrage, andererseits an der fehlenden Tradition, als Mittelständler weltweit agieren zu wollen. Entsprechend fehlen Sprachkenntnisse und die Ausrichtung auf individualisierte Bedürfnisse. Die Produkte der hiesigen Mittelständler zielen klar auf den einheimischen Massenmarkt. Für den unbedarften Westler ist es erstaunlich zu sehen, dass am letzten Ausstellungstag, bereits zig Stunden vor Türschluss die Hubstapler und Lieferwagen fleißig damit beschäftigt sind, die Stände abzubauen. Selbstverständlich haben die Fahrzeuge Vortritt gegenüber dem Besucher mit müden Beinen. Tempo ist alles in diesem Land!
Produktion größter Serien
Ebenso eindrücklich sind die Kundenbesuche. Ganz grob gesagt, realisieren die chinesischen Kunden im Kabelbusiness zwei Dinge: Es werden Kabel für alle nur möglichen Industrien in größten Stückzahlen abisoliert und kontaktiert und es werden komplizierte Kabel, für deren Konfektionierung sehr viel Handarbeit erforderlich ist, in Kleinserien bis hinab zu Stückzahl 1 gefertigt.
Hunderte von fleißigen und geschickten Händen junger Leute sind zu sehen. Die großen Stückzahlen werden nach wie vor in “bestem” Taylorismus produziert. In langen Reihen sitzen die meistens weiblichen Mitarbeiterinnen an ihren Arbeitsplätzen. Jede Hand macht eine bestimmte Handbewegung. Anschließend wird das halbfertige Produkt an die nächste Person weitergegeben. Immer wieder wird die Qualität der Halbfabrikate inspiziert. Bei den Arbeitsmitteln wechseln komplexe Bearbeitungsmaschinen mit einfachen Handwerkzeugen ab. Wenn westliche Firmen auch in Zukunft chinesische Massenhersteller beliefern wollen, müssen die Produktionsmaschinen mit chinesischer Bedienerführung ausgerüstet sein. Immer weniger sind die chinesischen Kunden bereit, englischsprachige Benützeroberflächen zu akzeptieren.
In Sachen Instandhaltung der Produktionsmaschinen gehen chinesische Firmen häufig eigene Wege. Verschleißteile wie Messer, Führungen oder Crimpstempel werden bevorzugt lokal gefertigt. Oft sind Materialien anzutreffen, die mit den Originalteilen nicht mithalten können. Nicht selten wird billiger Werkzeugstahl anstelle von Hartmetall eingesetzt. Häufig werden die Verschleißteile bis an die Brauchbarkeitsgrenze verwendet. Dies führt dazu, dass oft Arbeitsplätze zu sehen sind, wo Nacharbeit betrieben wird. Dies scheint effizienter zu sein als vorbeugende Wartung (preventive maintenance).
Konfektionierung komplexer Kabel in Kleinserien
Insbesondere westliche Firmen produzieren in China Kabel, die einen hohen Anteil manueller Arbeitsschritte erfordern. Die verwendeten Werkzeuge sind meistens einfacher Natur. Mit Messern, Zangen, Handpressen usw. werden komplexe Kabel oder Kabelbäume gefertigt, deren Herstellung in Europa, Amerika und Japan das Zehnfache kosten würde. Typisch für die chinesischen Industriezentren ist, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Jahr für Jahr Gehaltserhöhungen von mehr als 10 % durchsetzen können. Dies geschieht nicht gewerkschaftlich, sondern fluktuationsbedingt. Es wird interessant sein zu sehen, ob sich diese Art von Arbeitsplätzen in China halten können. Vermehrt hört man von lokalen Arbeitgebern, dass das Arbeitskräftereservoir kleiner zu werden droht.
Zurück auf der Straße
Hinter dem Rolex-Verkäufer werden zwei Abfallkübel sichtbar. Einer ist für organische Abfälle vorgesehen, einer für alle anderen Abfälle. Abfalltrennung ist plötzlich auch in Shanghai ein Thema. Auch sonst werden die chinesischen Großstädte im Innenstadtbereich immer westlicher. Im Taxi geht es – vorbei an immer noch unzähligen Baustellen – in stürmischer Slalomfahrt zurück zum Flughafen. Die Ambition, unbedingt zur Avantgarde dieser Welt gehören zu wollen, ist überall sicht- und fühlbar. Altes und auch weniger Altes muss ständig Neuem weichen. Alles bewegt sich – rasend schnell.
(Christoph Heiniger)
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